Lifestyle | 10.11.2022
Zug um Zug
Ein, aus. Ein, aus. Wir alle atmen. Mal schneller, mal langsamer, mal tiefer, mal flacher. Dieser Prozess passiert so automatisch, dass wir ihn die meiste Zeit gar nicht wahrnehmen. Und doch begleitet er uns in allen Lebenslagen und passt sich ihnen ganz von selbst an, sei es, wenn wir Sport treiben, einen Orgasmus haben, wenn wir schlafen oder weinen. Man könnte sogar sagen: Die Atmung ist die direkte Verbindung zwischen Körper und Seele.
Rhythmus des Lebens
Jessica Braun, die selbst leicht aus dem Atemtakt zu bringen ist, hat sich dieser vermeintlich einfachsten Sache der Welt angenommen. Für ihr Buch „Atmen“ hat sie Gebärende und Apnoetaucher:innen begleitet, Schlaflabore besucht, meditiert, mit Biathlet:innen und Schauspieler:innen gesprochen – und dabei herausgefunden, was die Kunst des Atmens eigentlich ausmacht. Wir haben die Autorin zum Gespräch getroffen.
TIROLERIN: Die meisten von uns atmen, ohne darüber nachzudenken. Warum haben Sie sich trotzdem mit diesem Thema beschäftigt?
Jessica Braun: Obwohl die Atemwege und deren Erkrankungen durch Corona ja generell an Bedeutung dazugewonnen haben, war das Thema für mich eher ein persönliches. Es hat sich ein bisschen so angefühlt, als hätten meine Atmung und ich uns auseinandergelebt. In Stresssituationen etwa wurde meine Stimme immer flacher, gepresst und höher. Das war natürlich sehr unangenehm . Manchmal habe ich mich sogar dabei ertappt, dass ich meine Atmung unwillkürlich komplett angehalten habe. Ich wollte herausfinden, was dahintersteckt und wie ich das wieder in den Griff kriegen kann. Im Zuge meiner Beschäftigung mit dem Thema bin ich auf so viele interessante Dinge gestoßen, dass ich mir dachte, „vielleicht interessiert das andere auch“ – und habe schließlich ein Buch darüber geschrieben.
Was waren denn Ihre erstaunlichsten Erkenntnisse?
Beispielsweise, dass der Körper nicht nur atmet, um Sauerstoff zu gewinnen – er ist nämlich trotz längeren Luftanhaltens meist gut damit versorgt. Der primäre „Atemtreiber“ ist der Kohlendioxidausstoß. Wenn wir zu viel Kohlendioxid im Blut haben, geraten wichtige Prozesse aus der Balance. Interessant fand ich auch die Erkenntnis, dass die Atmung die einzige lebenserhaltende Funktion ist, auf die wir unmittelbaren Einfluss nehmen können. Wir können bewusst damit spielen, sie gezielt einsetzen und damit wiederum auf andere Körperfunktionen wie den Herzschlag Einfluss nehmen – das ist wirklich außergewöhnlich. Was auch spannend ist – hier bewegen wir uns jetzt in Richtung Astrophysik: Es gibt ein Element in der Luft namens Argon, das wir alle ein- und ausatmen. Dieses Element ist sehr träge und reagiert nicht gerne mit anderen Stoffen. Deshalb verlässt es unseren Körper in unveränderter Form wieder. Sie und ich atmen gerade etliche Argon-Atome ein, die zuvor schon ein Dinosaurier, Sissi oder Shakespeare ein und ausgeatmet haben. Wir sind durch diese mit ihnen verbunden – und auch mit den Menschen, die nach uns kommen.
Welche Prozesse im Körper lassen sich über den Atemprozess konkret steuern?
Beim Atmen wird Sauerstoff über die Lunge und das Blut bis in die entlegensten Zellen unseres Körpers transportiert. Beim daraus resultierenden Stoffwechselprozess entsteht in den Zellen Kohlendioxid, das über den gleichen Weg – also über das Blut und die Lunge – wieder zurück nach draußen befördert wird. An diesem Vorgang hängen beispielsweise der Herzschlag und der Blutdruck, aber auch die Körpertemperatur. Beim Yoga gibt es bestimmte Atemübungen, wo man sich in eine Art „innere Hitze“ atmen kann. Der US-Wissenschaftler Robert Elsner hat Untersuchungen bei Mönchen durchgeführt, die ihre Körpertemperatur durch die Meditation auf ein Niveau abgesenkt haben, das wir normalerweise im Schlaf haben. Aber auch die Psyche wird durch die Atmung beeinflusst. Wenn man zu schnell zu viel atmet, gerät man in einen Hyperventilationszustand. Man hat dann das Gefühl, man bekäme keine Luft mehr, obwohl man eigentlich zu viel atmet. Bei Menschen, die zu Panikattacken neigen, können diese sogar durch eine zu schnelle Atmung getriggert werden. Aber umgekehrt geht das zum Glück auch: Wenn wir in einer Stresssituation sind, können wir uns in einen Entspannungszustand „hineinatmen“. Das erfordert allerdings – wie alle Dinge – etwas Übung, zum Beispiel in Form von Meditationen.
Wie kann man sich das genau vorstellen?
Grundsätzlich geht es darum, eine langsame, ruhige Atmung zu üben. Sechs Atemzüge in der Minute gelten als optimale Atemfrequenz im Entspannungszustand. Dabei wird das Herz entlastet und der ganze Körper optimal mit Sauerstoff versorgt. Zum Vergleich: Die durchschnittliche Frequenz liegt bei etwa 12 bis 18 Atemzügen pro Minute.
Das heißt, man kann auch „falsch“ atmen?
Ja, tatsächlich. Die bereits angesprochene Hyperventilation wäre da ein Extrembeispiel, aber man kann auch einfach ungünstig atmen. Wenn man beispielsweise nervös ist und wie ich merkt, dass die Stimme etwas gepresst klingt, hat das meistens auch damit zu tun, dass man nicht ruhig und tief genug atmet, sondern eben sehr flach. Interessant ist ja auch, dass sich eine nervöse Atmung auf das Umfeld überträgt.
Inwiefern?
Wenn wir uns gegenübersitzen und ich würde die ganze Zeit gehetzt atmen, würde das auch bei Ihnen irgendwann Stress auslösen. Umgekehrt können beispielsweise Eltern ihr weinendes Kind beruhigen, indem sie ihre Sprache und damit auch ihre Ausatmung verlängern – wenn sie etwa sagen „Ruuuhig, es wird alles guuuut“. Dieses Miteinander-Atmen geschieht meist ganz instinktiv, aber so können wir unsere eigene Ruhe auch auf andere Menschen übertragen.
Gibt es Lebenssituationen, in denen eine bewusste Atmung besonders wichtig ist?
Bei der Geburt ist eine bewusste Atmung für Mutter und Kind von unfassbar großer Bedeutung. Einerseits kann die Mutter den Schmerz dadurch besser ertragen, andererseits ist das Kind mit seiner eigenen Sauerstoffversorgung ja immer noch an die Mutter gebunden. Aber ich denke, jede:r kann von einer bewussten Atmung profitieren, um sich in Alltagssituationen wieder kurz zurück ins Hier und Jetzt zu holen. Egal, ob es um einen unangenehmen Moment im Büro oder um die bevorstehende Urlaubsplanung geht – wir sind ja alle ständig mit Vor- und Rückschauen unseres Lebens beschäftigt. Die bewusste Atmung ist ein wertvolles Werkzeug, um einen kurzen „Check-in“ mit sich selbst zu machen. Sich bewusst zu überlegen: Wie geht es mir? Wie ist meine Körperhaltung? Und wie atme ich gerade? Wenn man sich das einmal angewöhnt hat, verselbstständigt sich dieser Prozess und man entwickelt auch ein besseres Körperbewusstsein.
Stichwort Körperhaltung: Worauf kann man achten, wenn man die eigene Atmung verbessern möchte?
Wir sitzen ja oft sehr gebückt am Schreibtisch und lassen die Schultern nach vorne hängen. In dieser Haltung ist eine tiefe Atmung aber oft gar nicht möglich. Dafür müssen wir uns erst einmal aufrichten, die Schultern lockern und Platz für unseren stärksten Atemmuskel – das Zwerchfell – schaffen. Das wirkt sich im Übrigen auch positiv auf die Psyche aus.
Können Sie uns ein paar Atemtechniken für den Alltag verraten – zum Beispiel, wenn man nervös ist oder Einschlafprobleme hat?
Bei Einschlafproblemen gibt es einen ganz einfachen Trick: nämlich doppelt so lange auszuatmen, wie man einatmet. Also zum Beispiel gedanklich auf vier zählend ein, auf acht zählend aus. Wenn man das nicht gewohnt ist, kann sich dieser Rhythmus erstmal unangenehm anfühlen, das ist beim Einschlafen natürlich nicht hilfreich. Hier sollte man am besten auf das eigene Empfinden achten und Geduld haben. Vor Stresssituationen empfehle ich die Vierer-Atem-Regel: also vier Sekunden einatmen, vier Sekunden halten, vier Sekunden ausatmen.
Was passiert genau im Körper, wenn wir diese Entspannungsatmung praktizieren?
Zum einen wird das Kohlendioxid besser abgebaut und der Körper entlastet. Zum anderen gibt es in unserem vegetativen Nervensystem zwei Gegenspieler: den Sympathikus und den Parasympathikus. Ersterer ist für die Aufmerksamkeits- und Aktivitätssteigerung zuständig, zweiterer für die Ruhe und Regenerationsphasen. Die Einatmung ist an den Sympathikus gekoppelt, die Ausatmung an den Parasympathikus. Ganz grob ausgedrückt: Indem wir uns auf die Ausatmung konzentrieren, geben wir dem Parasympathikus die Oberhand und kommen so leichter in einen Entspannungszustand.
Verändert sich die Atmung im Laufe des Lebens?
Je älter wir werden, desto schwächer und schwieriger wird unsere Atmung. Wir verlieren an Muskelmasse, die Körperhaltung wird gekrümmter und die Organe verschieben sich ein bisschen nach unten, wodurch unser Zwerchfell immer weniger Platz hat und mehr leisten muss, um die Lungen zu füllen. Deshalb ist die bewusste Arbeit mit der Atmung im Alter umso wichtiger. Ausdauersportarten wie Schwimmen, Radfahren oder Joggen in Kombination mit gezielten Atemübungen können hier viel bewirken.
Manche behaupten, sich sogar zum Orgasmus atmen zu können. Ist das wirklich möglich?
Das kann ich mir gut vorstellen. Es gibt ja auch in der Meditation ekstatische Zustände, die rein durchs Atmen erreicht werden können.
Atmen Sie selbst anders, seit Sie sich mit dem Thema auseinandergesetzt haben?
Definitiv. Ich merke es schneller, wenn meine Atmung aus der Bahn gerät und habe die richtigen Werkzeuge, um sie wieder unter Kontrolle zu bringen. Auch, dass ich weiß, warum mein Körper so reagiert, hilft mir sehr, damit umzugehen. Dass er mich etwa mit einer schnellen Atmung in Stresssituationen ja nur leistungsfähiger machen will, indem er meine Muskeln vorsorglich mit Sauerstoff versorgt – und das ist ja eigentlich etwas Gutes. Vor Kurzem hat man herausgefunden, dass unsere Lunge sogar ein eigenes Immunsystem besitzt. Ein faszinierendes Organ, oder?