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Lifestyle | 20.12.2021

Facetten des Seins

Persönlichkeitseigenschaften beschreiben Unterschiede in der Art, wie Menschen sich verhalten, denken und fühlen. Besonders Introversion und Extraversion beeinflussen unsere Sicht auf die Welt. Redaktion: Ulrich Ringhofer, Tjara-Marie Boine

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© Shutterstock

Morgens ein gemeinsames Frühstück mit Freund:innen, mittags zu einem Meeting und dann weiter mit der Familie zum Bowling: Ein Tag voller Action, der viele extrovertierte Personen begeistern würde. Für Introvertierte klingt das jedoch nach dem absoluten Horror. Keine Verschnaufpause von Menschen und Aktivitäten? Ein No-Go. Wir haben uns das Buch „Still“ von Susan Cain näher angesehen und mit dem Persönlichkeitsforscher Dr. Marcel Zentner gesprochen, um herauszufinden, was es eigentlich bedeutet, introvertiert oder extrovertiert zu sein.

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Zum Nachlesen: Still – die Kraft der Introvertierten“ von Susan Cain - € 11,40, Goldmann Verlag - ISBN: 978-3-442-15764-8 © Hersteller

Ursprung in der Persönlichkeitspsychologie. Die Begriffe der „Introversion“ und „Extraversion“ hat der Persönlichkeitspsychologe Carl Gustav Jung im Jahr 1921 eingeführt. Der Schweizer war einer der Ersten, der sich mit der Thematik beschäftigte, und gilt deswegen als Pionier auf dem Gebiet. In seinem Werk „Typologie“ definiert er die Begriffe „Introversion“ und „Extraversion“ als gegensätzliche Wesensarten der Wahrnehmung, des Denkens, Wahrnehmens und Fühlens. Auch Susan Cain greift in „Still“ einige Aspekte des Persönlichkeitspsychologen auf. Übrigens kann man sowohl von „extrovertierten“ als auch von „extravertierten“ Menschen sprechen – der Duden lässt beide Schreibweisen zu. Jedoch heißt der Überbegriff "Extraversion".

Mit Mythen aufräumen. Viele haben die Begriffe „extrovertiert“ und „introvertiert“ schon einmal im Laufe ihres Lebens gehört und sind sehr wahrscheinlich in eine dieser beiden Kategorien eingeordnet worden. Als extrovertiert gelten oft Menschen, die besonders offen, gesellig und dominant sind. Dagegen werden introvertierte Menschen meist als schüchtern, bedacht und leise beschrieben. Introvertiertheit bedeutet aber keinesfalls, dass man schüchtern sein muss. Die Begriffe werden fälschlicherweise oft als Synonyme verwendet.

Zeit für sich. In Wirklichkeit richten introvertierte Personen ihre Energie und Aufmerksamkeit einfach stärker auf das Innenleben. Sie brauchen mehr Zeit in einer ruhigen Umgebung, um ihre „Batterien“ wieder aufzuladen und sich von Tätigkeiten mit vielen Menschen zu erholen. Heute weiß man aus medizinischen Untersuchungen, dass dies neuronale Ursachen hat. Denn das Gehirn von introvertierten Menschen nimmt äußere Reize schnell wahr und so kann es schneller zu einer Reizüberflutung durch Geräusche, Licht und visuelle Eindrücke kommen.

 

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Kraft durch Äußeres. Im Gegensatz dazu zeichnen sich extrovertierte Personen durch eine eher nach außen gewandte Haltung aus. Ob beim Feierabendbier, im Büro oder beim Small Talk auf der Straße – sie schöpfen aus der gemeinsamen Zeit mit anderen Menschen neue Energie und Kraft. Extrovertierte werden so meist als aktiv empfunden – sei es bei Sozialkontakten oder in der Karriere. Cain beschreibt in ihrem Werk, dass Extrovertiertheit in unserer Gesellschaft deswegen oft als Ideal angesehen wird.

Stille Wasser sind tief. Dabei betont Cain jedoch, dass man sich mehr darauf konzentrieren solle, welche Stärken in der Introvertiertheit liegen. Beispielsweise würden introvertierte Menschen länger nachdenken und so bedachtere Antworten geben, bevor sie sprechen. Außerdem können sie auch gut alleine sein und seien so laut Cain „unverschämt unabhängig“. Extrovertierte Menschen hätten damit eher ein Problem.

Komplexe Individualität. Es gibt jedoch nur sehr wenige Menschen, die rein introvertiert oder rein extrovertiert sind. Cain beschreibt in „Still“, dass hier viele andere Persönlichkeitsmerkmale und biografische Einflüsse mit hineinspielen. So entstehe ein gewaltiges Spektrum an verschiedenartigen Menschen. Die meisten lägen deswegen in einem Bereich zwischen Extraversion und Introversion – sie seien weder besonders extrovertiert noch auffallend introvertiert. Außerdem gäbe es Menschen, die situationsabhängig mehr zur einen oder zur anderen Seite tendieren würden. Der Psychologe Hans Jürgen Eyseneck führte dazu den Begriff der „Ambiversion“ ein.

Stärke finden. Schlussendlich geht Cain noch einmal darauf ein, dass die Persönlichkeitsmerkmale nicht besser oder schlechter sind. Vielmehr müsse man die eigenen Stärken und Potenziale kennen und dabei lernen, sie zu nutzen.

Persönlichkeitsforscher Dr. Marcel Zentner im Gespräch über das vermeintliche Spannungsverhältnis zwischen Intro- und Extraversion

"Introversion“ und „Extraversion“ sind landläufig weit verbreitete Begriffe. Doch was bedeuten sie wirklich? Sind wir entweder das eine oder das andere? Können wir uns ändern? Und welchen Einfluss kann dies auf unser soziales Leben und die Beziehungen zu den Menschen um uns herum haben? Dr. Marcel Zentner, Professor für Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik an der Universität Innsbruck, gibt uns Antworten auf all diese Fragen.

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Persönlichkeitsforscher Dr. Marcel Zentner im Gespräch © Franz Oss

TIROLERIN: Wie lassen sich Introversion und Extraversion am besten definieren?

Marcel Zentner: Am besten definiert man dieses Spektrum durch die Eigenschaften, die eben introvertierte und extrovertierte Menschen kennzeichnen. Typisch introvertierte Menschen sind dabei eher vorsichtig, bedächtig, oft ernst und nicht so leicht zu beeindrucken. Sie sind eher zurückhaltend. Aufgrund ihres Temperaments bevorzugen sie auch meistens eher ruhigere Umgebungen. Ein Spaziergang im Park oder im Wald, aber auch der Gang in ein Museum sind beispielsweise typisch introvertierte Umgebungen. Das ist die Phänomenologie – also das, was man von außen sieht. Generell richten sich introvertierte Mensch nach innen, also auf Gefühle und Gedanken, während der extrovertierte eher nach außen lebt. Der Begriff der „Intro- und Extraversion“ kam erst 1921 mit dem Werk „Psychologische Typen“ von C. G. Jung auf. Damals war das ein ziemlich revolutionäres Buch. Nicht, dass es davor nicht schon Typenlehren gegeben hätte, aber man darf nicht vergessen, dass Jung Psychoanalytiker und ursprünglich Schüler von Sigmund Freud war, der selbst allerdings recht verärgert auf dieses Buch reagierte. Nach Freuds Auffassung sollten nämlich bestimmte frühkindliche Einflüsse für alle ähnlich wirken und berechenbar zu verschiedenen psychischen Störungen führen. Die Idee, dass es anlagebedingt verschiedene psychologische Typen geben soll, die je nach Temperament anders auf Umwelteinflüsse reagieren, war ihm daher gar nicht recht.

Haben sich diese Ansichten nun im Laufe der letzten 100 Jahre verändert?

Zunächst muss man erst einmal klären, ob es solch einen Typus überhaupt tatsächlich gibt. Hans Jürgen Eysenck, ein prägender Einfluss auf die Persönlichkeitsforschung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, übernahm zwar die Dimension Extraversion/Introversion, hat aber ganz klar betont, dass es ein Spektrum ist, in dem man sich hier bewegen kann. Inzwischen zeigen bestimmte Befunde, dass es oftmals auch um Reizverarbeitung geht. Introvertierte sind dabei gut in der internen Reizverarbeitung, sie sind bei allem zuhause, was mit Erinnerung, Denken und Planen zu tun hat. Beim Verarbeiten von äußeren Reizen, wie es etwa auch soziale Kontakte sind, sind sie dagegen langsamer, als es eher Extrovertierte sind.

Sind Introversion und Extraversion angeborene, genetisch bestimmte Charaktereigenschaften oder erlernen wir diese im Laufe unserer Entwicklung?

Natürlich kann die Variabilität in dieser Dimension auch einen genetischen oder angeborenen Ursprung haben. Was man sicher weiß, ist, dass wenn man einen typisch introvertierten einem typisch extrovertierten Menschen gegenüberstellt, Unterschiede in der Aktivierung verschiedener Gehirnregionen beobachtbar sind. Bei Introvertierten wird etwa der frontale Kortex stärker aktiviert, also alles, was für das Denken, Planen und Problemlösen verantwortlich ist. Dass es neurobiologische Unterschiede gibt, heißt aber noch nicht, dass diese angeboren sind. Wie wir wissen, kann zum Beispiel auch Stress das Nervensystem nachhaltig verändern. Aus Zwillingsstudien weiß man allerdings wiederum, dass es ganz sicher eine genetische Komponente gibt. Biologie ist aber kein Schicksal. Sie schränkt allerdings sozusagen die Palette möglicher Entwicklungsverläufe ein. Je nach genetischer Ausstattung sind also manche Verläufe auf dieser Palette leichter zu erreichen, während man sich nach anderen gewissermaßen strecken muss.

Introversion wird landläufig mit Schüchternheit gleichgesetzt, Extraversion dagegen mit nach Aufmerksamkeit heischendem Verhalten. Treffender Vergleich oder reduktionistische Verkürzung?

Ich denke, es ist tatsächlich eine reduktionistische Verkürzung. Schüchternheit ist, wenn man bei der Begegnung mit neuen Menschen verunsichert ist. Man fühlt sich verloren und weiß nicht recht, wie man sich am besten verhalten soll. Ich glaube aber nicht, dass dies auf den eigentlich introvertierten Menschen zutrifft. Er ist zwar schon weniger gesellig, dies rührt aber eher aus der Abneigung gegen die Überflutung mit sozialen Kontakten her. Diese Verunsicherung oder Nervosität ist nicht unbedingt ein Zeichen für Introversion. Das Vorziehen von wenigen, dafür aber umso tieferen Beziehungen zu anderen Menschen ist eine bewusste Entscheidung und nicht etwas, das sie erleiden, wie es bei Schüchternheit der Fall wäre. Das Nach-Aufmerksamkeit-Heischen, wie Sie das formuliert haben, stimmt allerdings, glaube ich, auch nicht. Ich denke, sie brauchen soziale Kontakte einfach, weil sie das stimuliert. Insbesondere der Wechsel von Kontakten ist wichtig, damit sie aktiviert bleiben und sich wohlfühlen. Das hat aber nicht mit einer quasi narzisstischen Suche nach Beachtung zu tun. Diese Begriffe sind also eigentlich voneinander entkoppelt.

Kann man demnach auch gleichzeitig schüchtern und extrovertiert sein?

Absolut. Das ergibt dann eine kuriose Mischung, die quasi introversionsähnlich aussieht. Der Extrovertierte, der eigentlich gerne viele Kontakte hätte, aber aufgrund der Schüchternheit damit nicht so recht umgehen kann, kann dann sogar eine Art pseudointrovertiertes Profil entwickeln.

Die meisten Menschen würden sich wahrscheinlich einer der beiden Persönlichkeitstypen zuordnen. Gibt es aber vielleicht auch „Mischformen“ oder Zwischenräume, in denen man sich wiederfinden kann?

Es gibt zwar psychologische Typen. Wenn etwa eine Reihe von bestimmten Merkmalen vorhanden ist, kann man von einem Typus sprechen. Bei der Introversion ist es aber nicht so. Es gibt keinen „Siedepunkt“, ab dem man dann introvertiert ist. Es ist ein Kontinuum. Ich denke zwar schon, dass jemand ab einem bestimmten Punkt als sehr introvertiert oder extrovertiert auffällt. Wenn man auf dieser Introversionsdimension zu den jeweils äußersten 20 Prozent oder 15 Prozent zählt, dann fällt es wahrscheinlich deutlich auf. Das, was dazwischen liegt, also letztlich circa 60 bis 70 Prozent, wurde auch schon von Eysenck als „ambivertiert“ bezeichnet. Zwar gibt es andere Ansätze, wie etwa den Meyers-Briggs-Typenindikator, bei denen man sich entscheiden muss, ob man das oder das ist, aber das ist alles andere als seriös.

Sind wir im Grad unserer Intro- oder Extraversion festgemeißelt oder kann man vom introvertierten doch auch zum extrovertierten Menschen werden?

Jung hatte weiters noch die Idee der Individuation, ein Streben nach Ganzheit in der eigenen Persönlichkeitsentwicklung. Er hat das dann auch mit seiner Typologie in Verbindung gebracht und fand, dass Introvertierte in der zweiten Lebenshälfte extrovertierter und umgekehrt Extrovertierte introvertierter werden. Ich denke schon, dass sich bei Introvertierten auch im Laufe der Zeit der Wunsch regt, mehr nach außen zu wirken – beziehungsweise bei Extrovertierten irgendwann die Sinnfrage auftaucht und sie beginnen, mehr über sich selbst nachzudenken. Das ist ein natürlicher Prozess, diese Mäßigung im Sein. Faktisch sind dies aber keine tektonischen Veränderungen. Ein:e Introvertierte:r wird zwar im Vergleich zu früher anders werden, aber trotzdem tendenziell introvertiert bleiben. Natürlich kann man sich das aber auch abtrainieren. Wenn etwa von einem Umfeld eine bestimmte Verhaltensweise kontinuierlich verlangt oder gefördert wird, gibt es durchaus die Möglichkeit zu einer Persönlichkeitsveränderung.

Gegensätze ziehen einander bekanntlich an. Trifft dies auch auf extrovertierte und introvertierte Menschen zu?

Ich kann diese Frage spezifisch im Bezug auf Introversion und Extraversion nicht wirklich beantworten. Was man aber herausgefunden hat, ist, dass sich Paare in ihrer Persönlichkeit durchaus ähneln. Zwar nicht so stark, wie sie es etwa im Bezug auf Bildung oder ihren sozio-ökonomischen Hintergrund sind – hier sind die Ähnlichkeiten viel größer. Ob Introvertierte und Extrovertierte nun eine gute Kombination sind, dafür gibt es zwar keine harten Fakten, anekdotisch kann ich aber sagen, dass ich viele Paare kenne, bei denen es funktioniert. Wobei ich aber schon auch glaube, dass dies stark relativ ist. Wenn beide extrovertiert sind, eine Person aber stärker ausgeprägt, dann kommt quasi der anderen Person die Rolle des Introvertierten zu.

Der Fachbereich Persönlichkeitspsychologie, Differenzielle Psychologie und Diagnostik an der Universität Innsbruck informiert auf seinem Instagram-Account
@psychlab.uibk über seine Forschungsarbeit und präsentiert spannende Fakten rund um die menschliche Psyche.