Gehirn: Wie wir uns selbst manipulieren

Kopfsache: Gehirnforscher Johannes Passecker im Interview

Interessante Fakten über unser Gehirn

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Unser Gehirn ist schlau – und trügerisch. Der Innsbrucker Hirnforscher Johannes Passecker erklärt, wie wir uns selbst manipulieren und warum wir öfter Fremde im Bus ansprechen sollten.

Stell dir vor, du könntest in das Gedächtnis von Isaac Newton eintauchen. Oder von Freddie Mercury. Oder von Adolf Hitler. Die Daten wären in einer Cloud gespeichert, auf die jede:r zugreifen kann, auch nach ihrem (physischen) Ableben.

Szenarien wie diese scheinen derzeit noch surreal, doch sie könnten in ein paar Jahrhunderten durchaus Realität werden – zumindest aus neurowissenschaftlicher Sicht. Johannes Passecker, Hirnforscher an der Medizinischen Universität Innsbruck, gibt einen Einblick in die Funktionsweise des wohl faszinierendsten und kompliziertesten Organs, das die Natur je hervorgebracht hat.

Können Sie Gedanken lesen?

Johannes Passecker: Ich und mein Team versuchen es zumindest jeden Tag. Manchmal gelingt es uns, manchmal nicht. Dank technologischer Fortschritte und Werkzeugen wie Magnetresonanztherapie, neuronalen Implantaten oder EEG können wir schon sehr viele neuronale Signale aufnehmen, interpretieren und Absichten erkennbar machen.

Letztes Jahr ist der Neurowissenschaft etwas Wunderschönes gelungen: Man hat einem stummen Probanden die Wortintention aus dem Gehirn abgelesen und ihm über ein KI-Tool das „Sprechen“ wieder ermöglicht. Inzwischen können wir sogar ein Bild, das ein Mensch wahrgenommen hat, auslesen und mit einem Bildbearbeitungsprogramm rekonstruieren – nur aufgrund der neuronalen Aktivität, die dessen Vorstellung auslöst. Und das ist das Faszinierende an unserer Arbeit: dass wir all das unentdeckte Terrain des Gehirns entdecken und interpretieren können. Wie Gedanken entstehen, wie wir unsere Umgebung wahrnehmen und wie flexibel wir auf Veränderungen reagieren.

Wenn Sie mein Gehirn scannen würden – würden Sie dann erkennen, dass ich gerade an Schokolade denke?

Wenn ich genug Daten dazu habe, wie oft Sie in der Vergangenheit an Schokolade gedacht haben, definitiv. Man muss aber dazu sagen, dass unsere Untersuchungen in einer sehr kontrollierten Umgebung stattfinden. Wir sind noch weit davon entfernt, dass wir von jeder:m, der:die vorbeikommt, tatsächlich die Gedanken lesen können. Und natürlich spielt auch der ethische Faktor eine Rolle; die Privatsphäre muss geschützt werden.

Das Wichtigste für uns ist, dass wir Personen helfen können, die sich nicht bewegen, nicht sprechen oder sehen können, indem wir ihnen die Sinneswahrnehmung wieder geben. Auf der anderen Seite ist die Vorstellung natürlich interessant, eines Tages die Gehirnaktivität so auslesen zu können, dass es möglich ist, eine Person virtuell zu „rekonstruieren“ und beispielsweise in einer Art Cloud abzuspeichern – dann müsste man nicht mehr kognitiv sterben. Aber davon sind wir noch Jahrhunderte entfernt.

Gehirnforscher im Interview
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Was ist ein Gedanke?

Ein Gedanke ist im Grunde ein mentaler Prozess, der uns in unserem Tun oder Denken beeinflusst. Das kann eine Idee sein, eine Überlegung, eine Vorstellung oder eine Erinnerung. Wir haben die ganze Zeit Gedanken – dass wir nur zehn Prozent unseres Gehirns verwenden, ist ein reiner Mythos.

Unser Gehirn ist wie ein Orchester, das 24 Stunden lang an 365 Tagen im Jahr spielt. Vielleicht steht nicht jedes Instrument immer im Vordergrund, aber das Wichtige ist, dass jeder Teil dieses Orchesters dranbleibt.

Man kann es auch mit dem Straßenverkehr vergleichen. Da ist ein stetiger Fluss von Autos, Lkw, Personen, Fahrrädern, die unterwegs sind und Informationen oder Waren transportieren. Und das funktioniert ja auch nur, weil wir Synchronisationen haben.

Wir haben synchronisierte Ampeln, wir haben Verkehrsregeln. Und so ähnlich läuft es auch bei uns im Gehirn ab. Es herrscht ein stetiges Kommen und Gehen. Und die Gedanken tauchen in unsere Wahrnehmung ein. Aber viele Prozesse passieren auch unterhalb unserer Wahrnehmungsebene und bringen Konzepte, Wörter und Ideen hervor – und auch Entscheidungen.

Unser Gehirn ist wie ein Orchester, das 24 Stunden lang an 365 Tagen im Jahr spielt.

Johannes Passecker, Neurowissenschaftler an der Universität Innsbruck
Was passiert im Gehirn, wenn wir Entscheidungen treffen?

Das ist sehr individuell. Unsere Erfahrungen und Erlebnisse beeinflussen, wie wir uns in bestimmten Momenten entscheiden. Vieles passiert dabei aus reiner Gewohnheit. Wir Menschen – und auch unser Gehirn – gehen bei Entscheidungen im Normalfall lieber den Weg des geringsten Widerstands als etwas Neues auszuprobieren. Aus gutem Grund, immerhin ist diese Vorgehensweise energieeffizient und risikoarm.

Kopfsache: Interessante Fakten über unser Gehirn
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Wie manipulierbar ist unser Gehirn?

Wir fokussieren uns in der heutigen Gesellschaft ja sehr stark auf die Beeinflussung durch Medien, Internetmeinungen oder Marketingbotschaften. Aber im Endeffekt manipulieren wir uns selbst viel mehr, als es die äußeren Einflussfaktoren tun. Das wollen wir natürlich nicht wahrhaben, aus Selbstschutz.

Wir haben nicht gerne Unrecht, denn zu dem Zeitpunkt haben wir ja schon relativ viel Zeit und Energie in eine gewisse Idee investiert. Man kann sich diese Idee wie eine Statue vorstellen, die von unserem Gehirn meisterhaft geformt wurde. Diese Statue nach ihrer Vollendung wieder zu verändern, würde ja nochmals viel Zeit und Energie kosten. Deshalb hinterfragen wir lieber zuerst die andere Sichtweise.

Auch in Beziehungen ist es immer einfacher, die Fehler beim Gegenüber zu suchen als bei sich selbst. Es braucht viel Evidenz, um Menschen dazu zu bringen, ihre eigene Meinung zu ändern. Um aus diesem Muster auszubrechen, sollte man zumindest versuchen, möglichst offen und flexibel nach außen zu gehen.

Wir alle leben in sozialen Blasen, aber wenn man zum Beispiel versucht, möglichst oft die Interaktion mit anderen Menschen zu suchen – sei es im Bus oder auf der Straße – öffnet sich der Horizont. Weil diese Erfahrungen das Gehirn um Informationen und Meinungen bereichern, die man sonst nicht bekommt. Sich selbst immer wieder zu hinterfragen und seiner Sache nicht zu sicher zu sein, ist wichtig. Und manchmal nicht sofort den einfacheren Weg zu wählen, sondern den schwierigeren.

Was bringt regelmäßiges Gehirntraining – und welchen Einfluss hat der Lebensstil auf die Gehirnleistung?

Der Lebensstil – also Ernährung, Bewegung und soziale Aktivität – macht sehr viel aus. Wenn der Körper gesund ist, ist auch das Gehirn gesund. Das Gehirn ist ein energiefressendes Organ; das heißt, alles muss ideal funktionieren, und je mehr Schäden im „Straßennetz“ vorhanden sind, desto schwieriger wird es.

Verkalkte Arterien oder Bluthochdruck zum Beispiel sind problematisch für das Gehirn. Die Forschungslage zum Gehirntraining ist bescheiden – sie zeigt zwar grundsätzlich gute Ergebnisse für spezifische Lernkategorien, aber meistens auch nur kurzfristig. Sobald man aufhört zu lernen, stellen sich auch die positiven Effekte ein. Viel wichtiger ist es, aktiv zu bleiben, neue Dinge auszuprobieren und sich immer wieder zu fordern. Das ist das beste Gehirntraining.

Lassen sich dadurch auch Erkrankungen wie Demenz vorbeugen?

Definitiv. Den Körper und das vaskuläre System so gesund wie möglich zu halten, Bluthochdruck zu kontrollieren, Übergewicht und Stress zu vermeiden und genügend zu schlafen, verringert auf lange Sicht auch das Demenzrisiko. Aber natürlich spielen auch genetische Faktoren eine Rolle.

Eine eigene Idee zu hinterfragen kostet Zeit und Energie. Deshalb hinterfragen wir lieber zuerst die anderen.

Johannes Passecker
Was ist Gift fürs Gehirn?

Drogen, Inaktivität, schlechtes Essen und Alkohol. Seit ich in der Wissenschaft tätig bin – und das sind inzwischen fast 15 Jahre – und mit eigenen Augen gesehen habe, was Alkohol mit dem Gehirn macht, trinke ich kaum mehr etwas.

Funktionieren die Gehirne von Männern und Frauen eigentlich unterschiedlich?

Natürlich ist es so, dass sich das biologische Geschlecht und die Hormone auf unseren ganzen Körper auswirken, auch auf Gehirnfunktionen. Und ich weiß, dass wir alle Kategorisierungen lieben – in der Forschung ja ganz besonders – aber wir Menschen sind mehr als unser Geschlecht. Wir sind die Summe unserer Erfahrungen, unserer Umgebung, unserer Erlebnisse. Diese Dinge haben so viel mehr Auswirkungen auf unser Gehirn und auf unser Bewusstsein als die Kategorie des biologischen Geschlechts.

Gehirnforscher im Interview TIROLERIN
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Wie verändert sich unser Gehirn im Lauf des Lebens?

Wenn man jünger ist, lebt man oft im Jetzt. Im Alter lebt man mehr von Erinnerungen und Erfahrungen. Und das spiegelt sich auch im Gehirn wider.

Am Anfang unseres Lebens ist es darauf programmiert, dass wir viel Neues sehen und lernen; es kann sich noch nicht darauf verlassen, alles zu wissen. Deshalb werden neue Erlebnisse auch als besonders interessant und positiv wahrgenommen, sie lösen Glücksgefühle aus.

Je älter wir werden, desto mehr können wir darauf vertrauen, das meiste schon erlebt und gesehen zu haben – oder wir meinen es zumindest. Das ist natürlich der einfachste und energieoptimierendste Weg, aber auch ein gefährlicher, denn die Welt um uns herum verändert sich ja trotzdem. Deshalb ist es auch so wichtig, immer offen und neugierig zu bleiben.

Stimmt es, dass man an die ersten drei Lebensjahre keine Erinnerung hat?

Ja, mit Ausnahme von stark prägenden Ereignissen, die meistens aber auch ein „falsches“ Gedächtnis sind und zum Beispiel über Erzählungen von Verwandten aufgenommen wurden.

Man hat keine Erinnerung an diesen Lebensabschnitt, weil es da noch gar nicht darum geht, das Gedächtnis zu formen – sondern darum herauszufinden, wie die Umgebung funktioniert. Deswegen ist es auch so schwierig, Kinder zu motivieren, indem man sagt: „Wenn du heute XY machst, bekommst du dafür morgen XY.“

Ein Kind interessiert nicht, was morgen passiert. Das, was jetzt passiert, ist das Interessante. Die Entwicklung des präfrontalen Cortex – der Gehirnregion, die für die Aufnahme, Bewertung und Kategorisierung von Informationen zuständig ist – ist erst bis mit Mitte 20 abgeschlossen. Deshalb ist Alkohol- und Drogenkonsum bis dahin umso schäd-
licher.

Seit ich mit eigenen Augen gesehen habe, was Alkohol im Gehirn anrichtet, trinke ich kaum mehr.

Johannes Passecker
Wie unterscheidet sich das menschliche Gehirn von einem tierischen?

Gar nicht so sehr, in den meisten Funktionen sind wir uns sehr ähnlich. Und man darf nicht den Fehler machen zu meinen, tierische Gehirne wären einfach gestrickt – im Gegenteil, sie sind hochkomplex, und wir verstehen sie auch noch nicht richtig.

Nur wurden die Hirne im Lauf der Evolution eben so geformt, dass sie jedem Wesen großen Nutzen bringen. Deshalb haben viele Tiere auch Sinneswahrnehmungen, von denen wir Menschen nur träumen können. Ein Elefant weiß heute noch, welchen Weg er vor 40 Jahren gegangen ist. Der Mistkäfer kann auch in der Wüste eine gerade Linie gehen, über Kilometer hinweg, weil er sich an der Milchstraße orientiert. Für den Menschen wäre das unmöglich.

Besteht Ihrer Ansicht nach eine Trennung zwischen Körper und Geist?

Nein, und ich denke, die meisten neuronalen Wissenschaftler:innen würden mir da zustimmen. Im Grunde ist der „Geist“ ein Konstrukt aus neuronalen und damit biologischen Prozessen. Um das vom Körper zu trennen, braucht es schon sehr viel philosophische Flexibilität. Natürlich ist das aber auch eine Definitionsfrage.

Könnte es – aus wissenschaftlicher Sicht – Zombies geben?

Es gibt Drogeneinflüsse, die ein zombieähnliches Verhalten hervorrufen. In Westafrika kursieren derzeit Drogenmischungen, die unter anderem Fentanyl enthalten und Menschen dazu bringen, sich von Brücken zu werfen, blind in den Straßenverkehr zu laufen oder den Kopf gegen die Wand zu schlagen.

Der Ursprung des „Zombies“ geht wohl auf haitianische Schamanen zurück, die das Gift vom Kugelfisch gewonnen und verabreicht haben – bei einer Überdosis verfällt man in einen komatösen Zustand, der mit dem Tod verwechselt werden kann. Manch eine:r wurde schon lebendig begraben und ist dann mit verminderten Gehirnfunktionen wieder aufgewacht. Allerdings ist das ein kurzfristiger Zustand. Deshalb würde ich sagen: Zombies bleiben ein Science-Fiction-Phänomen.

Johannes Passecker ist Neurowissenschaftler an der Universität Innsbruck. © TIROLERIN/Kapferer

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MEHR ÜBER DIE AUTORIN DIESES BEITRAGS:

Stellvertretende Chefredakteurin und Redakteurin für Style, Beauty und Gesundheit der TIROLERIN, Andrea Lichtfuss
© privat

Andrea Lichtfuss ist Stv. Chefredakteurin der TIROLERIN und für die Ressorts Beauty, Style und Gesundheit zuständig. Sie mag Parfums, Dackel und Fantasyromane. In ihrer Freizeit findet man sie vor der X-Box, beim Pub-Quiz oder im Drogeriemarkt.

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